Es war einmal eine Eiche in der Nähe eines Dorfes der Chatten, die sich von allen anderen Bäumen in Hessen unterschied. Der Grund dafür war, dass angeblich in der Krone dieses Baumes der mächtige Gott Donar lebte.
Seltsamerweise hatte ihn niemand im Dorf jemals gesehen.
“Donar muss überall auf der Erde blitzen. Sein Beruf verlangt eine 24 stündige Arbeit. Non-stop. Deshalb befindet er sich momentan… ok, ich gebe es zu, fast niemals hier”, sagte die Priesterin.
“Angeblich fehlt unserem Gott ein warmes Zuhause mit Feuer und Bier, weswegen er nie hier ist. Wer würde überhaupt in der Krone einer Eiche im Winter frieren wollen? Keiner, nicht mal Gott”, sagte der Betrunkene des Dorfes mit überraschender Weisheit.
“Bestimmt vermisst er Frigga, seine Mutter, und besucht sie ständig”, sagten die Kinder.
Niemand konnte sich auf einen Grund einigen. Trotz der eindeutigen Abwesenheit Donars feierten die Dorfbewohner jedes Jahr ein Fest zu seinen Ehren.
Alle Bewohner des Dorfes waren glücklich und froh mit dem jährlichen Fest außer ein junger Mann namens Ingo.
Ingo bezweifelte die Existenz aller germanischen Götter und das versetzte ihn Verzweiflung und begab sich auf die Suche nach einer Antwort.
Eines Tages, während des Donar Fests, und nachdem er zuvor vier Liter Bier geschluckt hatte, stellte er der Priesterin eine Frage:
“Glauben Sie wirklich, dass unser Gott Donar in der Krone der Eiche wohnt?”.
Die Priesterin, die genauso betrunken war wie Ingo, antwortete ihm, ohne sich Gedanken darüber zu machen.
“Für wen halten Sie mich? Psst. Natürlich nicht. Ich versuche einfach so zu tun als ob ich daran glaubte, so dass meine Landsleute jedes Jahr einen guten Anlass haben, um richtig die Sau rauszulassen. Alle haben Spaß. Besonders die Kinder. Schauen Sie mal!”.
Ingo warf einen Blick auf die tanzenden Kinder, die den Baum umgaben. Die Priesterin hatte recht. Die Kinder sahen besonders glücklich aus
“Aber, was ist dann die Wahrheit?”.
Die Priesterin rülpste und trank noch ein Schluck Bier.
“Keine Ahnung junger Mann. Aber heute braucht sie niemand”, sagte sie, bevor sie wegging.
Diese Antwort enttäuschte ihn zutiefst. Ingo hatte, ohne zu zögern, sein ganzes Leben an die Geschichte des Baumes geglaubt. Er erinnerte sich daran, wie oft er als Knabe vor dem Baum lange Monologe gehalten hatte, in der Hoffnung dadurch eine Antwort zu bekommen. Jetzt realisierte er, dass ein wichtiges Teil seines Lebens eine Täuschung gewesen war. Eine bedeutungslose Täuschung, die ihn als Idioten darstellte.
Mit gebrochenem Herzen ließ er sich auf den Boden fallen und weinte.
Eines der Kinder bemerkte dies und kam zu ihm rüber. «Was ist los Ingo? Wieso machst du so ein trauriges Gesicht an so einem geilen Tag?”.
“Donar lebt nicht auf dem Baum und er existiert nicht einmal! Alles ist nur eine Lüge und ich habe wie ein Idiot daran geglaubt!”, beantwortete Ingo die Frage.
Das Kind bekam einen Lachanfall und fiel auch auf den Boden.
“Im Ernst? Wirklich im Ernst? Spinnst du?”, fragte das Kind.
“Was? Glaubst du etwa auch nicht an die Existenz Donars?”, fragte Inge sehr überrascht.
“Für wen hälst du mich, Alder? Pssst. Natürlich nicht. Ich tue einfach so, als ob ich daran glaube, so dass die Erwachsene einen guten Anlass haben jährlich ein geiles Fest zu feiern. Alle haben Spaß. Besonders die Priesterin. Schau sie mal an!”.
Und dieses Mal warf Ingo einen Blick auf die Priesterin. Sie sah sehr glücklich aus, während sie mit dem Betrunkene des Dorfes rummachte.
Ingo sah nachdenklich aus. “Wer glaubt denn überhaupt noch an unseren Gott?”.
“Ich weiß es nicht, aber das ist doch egal, oder?”, sagte das Kind, bevor er aufstand und Ingo verließ.
Ingo war nicht zufrieden, weswegen er alle Dorfbewohner fragte, ob sie an die Götter glaubten. Da viele von ihnen betrunken waren, fiel es ihnen nicht schwer, die Wahrheit ohne Hemmungen zu äußern.
Am Ende des Tages, brachten die verschiedene Geständnisse Ingo zu dem Schluss: Nur wenige Menschen glaubten in Wirklichkeit an die Existenz der Götter.
Er wollte weinen, aber seine Augen waren schon ausgetrocknet und seine Landsleute hatten immer noch viel Spaß. Er beschloss, nicht weiter zu trauern, sondern an dem Spaß der Dorfbewohner teilzuhaben. Deshalb schloß er sich der tanzenden Gruppe an.
Die Tage vergingen und Ingo machte sich keine Gedanken mehr darüber, bis zu einem tragischen Tag, in dem sein Dorf und Heimatland durch die Franken gewalttätig erobert wurde.
Viele starben im Kampf. Viele, sogar ein paar Freunden von ihm.
Sein König wurde zu einem Untergeordneten des fränkischen Königs.
Die Chatten, sein Volk, waren jetzt unter der Herrschaft der Franken und einer neuen Religion.
Eines Tages, kam ein wichtiger Mann ins Dorf: Bischof Winfred. Er trug eine knallbunte lilafarbene Tunika und einen goldenen Hut in Form eines Kegels. Ein Heer von fränkischen Krieger folgte ihm wohin er ging.
An diesem Tag lag Ingo entspannt auf dem Gras, nicht weit entfernt von dem heiligen Baum.
“Gerüchten zufolge ist dieser Baum heilig. Nicht wahr junger Mann?”.
Ingo wachte auf und entdeckte die hochnäsige Figur des Bischofs neben sich.
“Ja”, antwortete er.
«Es gibt viele, die behaupten, dass der Gott Donar in der Krone des Baumes lebt». Winfred starrte Ingo direkt in die Augen. “Glauben Sie an diese Geschichte, junger Mann?”.
Ingo dachte für eine Sekunde nach und beantwortete die Frage: “Ja… ich glaube schon”.
“Ich glaube dahingegen nicht an die Existenz deines Gottes und ich werde es dir beweisen”, sagte der Bischof.
“Nö, Sie müssen das nicht tun”, sagte Ingo.
“Die Axt bitte”, sagte der Bischof zu einem seines Kriegers, während er seine Ärmel hochkrempelte.
“Nein, was tun Sie da?”, beschwerte sich Ingo entsetzt.
“Ruf deine Landsleute”, befahl ihm der Bischof.
Einer der Franken hielt Ingo am Arm fest und schob ihn weg.
“Mach das!”, schrie der Franke.
Ingo rannte zum Dorf und tat die Situation kund.
Alle Dorfbewohner liefen schnell zum Baum, um sein Fällen zu stoppen.
Aber es half nichts, weil der Bischof schon angefangen hatte und seine Krieger ihn umgaben, um eine Intervention zu verhindern.
Die Chatten schrien hilflos, während Winfred, der Bischof, mehrmals die Klinge gegen den Stamm der Eiche schlug.
“NEIN! NEIN! BITTE NICHT!”
Die Tränen flossen über die Wangen der verzweifelten Dorfbewohnern. Die Kinder, die Frauen, die Väter und Mütter, die Schmiede, die Priesterin; jedes Mitglied der Gesellschaft weinte in seiner Hilflosigkeit.
Viele fielen auf die Knie, um das Mitleid der Franken zu verursachen, aber sie blieben unberührt wie Steine.
Nach einer Weile, fiel die Eiche auf den Boden.
Die Chatten waren schockiert. Ingo auch. Nur die Franken nicht. Der Bischof war sogar dreist genug, danach zu predigen.
Einen Monat später bauten die Franken ein Gebetshaus aus dem Holz des einst heiligen Baumes.
Ingo war zutiefst empört, nicht nur wegen des Baumes, sondern auch wegen seiner Landsleute. Nach einer Zeit fingen viele Chatten an, regelmäßig ins Gebetshaus zu gehen und akzeptierten die Gewalt der Franken allmählich.
Auch Ingo besuchte eines Tages trotz der Gewalt das Gebetshaus, nicht, um zu dem christlichen Gott zu beten, sondern aus purer Neugier.
Drin sah alles frisch, sauber, und friedlich aus. An einer Wand jedoch hing etwas sehr Abstoßendes: die Skulptur eines kruzifizierten Mannes. Das Blut, der Tod, und die Brutalität waren Ingo nicht fremd; aber er empfand als sehr unpassend an einem heiligen Ort wie diesem.
“Wer ist das?”, fragte Ingo den Priester, der zufällig neben ihm stand.
“Jesu Christus, unser Gott”, antwortete dieser ihm.
“Und warum ist er an ein Kreuz genagelt? Muss er nicht täglich überall auf der Welt etwas leisten?”.
“Doch, aber er tut dies auf eine seelische Ebene”.
“Ist ihm nicht kalt? Hat er keinen Durst?”.
“Nein.”
“Und wo ist seine Mutter?”
“Im Himmel, wie er. Und sie hat ihn besucht, als er von den Römern an das Kreuz genagelt wurde.”
“Ah, okay.”
Ingo dachte eine Sekunde nach und stellte dem Priester dann eine letzte Frage.
“Und glauben Sie an ihn?”
“Natürlich mein Sohn!”
Ingo sah dem Priester direkt in die Augen, um irgendwelche Lüge zu erkennen, aber es war nutzlos.
Der Priester war nicht betrunken.
In der Nacht desselben Tages schärfte Ingo sein Schwert und bastelte eine Fackel aus der übrigen Reste des einst heiligen Baumes.
Auf den Zehenspitzen ins Gebetshaus zu schleichen stellte für Ingo kein Problem dar, nicht einmal den Priester zu töten, und selbstverständlich das ganze Gebäude ins Feuer zu setzen.
Und das tat er.
Das Dorf versuchte erfolglos das Feuer zu löschen. Alle schrien und rannen mit wassergefüllten Eimern hin und her. Dies anzusehen war köstlich für Ingo.
Inmitten des Chaos, fing er an um das brennende Haus herum zu tanzen. Die Dorfbewohner, die alles dafür taten, um das Bethaus zu retten, starrten den tanzenden Ingo an.
Die Tatsache, dass ihn jetzt alle verdächtigen, interessierte ihn nicht. Er glaubte daran, dass entweder die Franken eine Kirche aus der Ruinen des alten Bethaus aufbauen würden, oder sich ein Baum aus der Asche des Gebäudes erheben würde.
In diesem Moment realisierte er, dass ihm beide möglichen Ereignisse völlig egal waren. So oder so würde er sowieso von jemandem getötet. Und sein Mörder würde wiederum von jemand anderem umgebracht werden. Und den Mord an seinem Mörder würde auch gerächt werden. Und so weiter, usw., usw., usw. Bis ans Ende der menschlichen Geschichte. Amen.
Geschrieben durch Raúl A. «Radwulf» Valero Chávez
04.04.2018
Vielen Dank an Anna Zimmerer für die Korrektur.